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Die wachsende Bedeutung traumasensibler Körperarbeit im Yoga

Loredana Di Filippo und Louisa Domhan im Interview: Warum Yogalehrende eine besonders hohe Verantwortung tragen

Liebe Loredana, liebe Louisa, ihr beide habt euch auf das Unterrichten von (trauma)sensiblem Yoga, bzw. von (trauma)sensibler Körperarbeit spezialisiert. „Trauma“ ist ein großes, recht schweres Wort, welches viele negative Assoziationen hervorruft. Könnt ihr uns eine kurze Einführung geben, was Trauma bedeutet und wieso euch das Thema am Herzen liegt?

Loredana: Wenn Menschen an Trauma denken, denken sie meist an Schocktraumata. Sie denken an Krieg, Naturkatastrophen, Unfälle oder sexuelle Gewalt. Und es stimmt natürlich: Diese Ereignisse haben das Potenzial, traumatisch zu sein. Doch noch einmal von vorn: Trauma bedeutet erst einmal „Wunde“. Ein Trauma ist etwas, das unser Nervensystem überfordert und damit unsere Verarbeitungsmöglichkeiten übersteigt. Denn hier entstehen Traumata: im Nervensystem. Eine moderne Definition von Trauma ist also: Ein Trauma entsteht im Nervensystem, nicht im Ereignis selbst. Das bedeutet, was traumatisch ist, ist subjektiv. Anstelle von Trauma könnte man auch sagen: „Das Nervensystem überfordernde Erfahrungen“.
Um wieder an den Beginn meiner Antwort anzuknüpfen: Es gibt Ereignisse, denen wir als Gesellschaft zuschreiben, traumatisch zu sein. Das sind singuläre Ereignisse und wir nennen das Schocktrauma. Neben dem Schocktrauma können aber auch andere Ereignisse wie Mobbing oder Rassismus traumatisch sein. Es gibt das generationsübergreifende Trauma, Geburtstraumata und Entwicklungstraumata. Besonders Erlebnisse in der frühen Kindheit, wie schwerwiegende Veränderungen, der Verlust einer wichtigen Bezugsperson oder Eltern, die selbst nicht genug Ressourcen für eine echte Bindung haben, können unser Nervensystem aus dem Gleichgewicht bringen.
Das Wissen über die verschiedenen Arten von Trauma, die Rolle des Nervensystems und unsere Feinfühligkeit ist noch relativ jung. Ich weiß, dass sich das Thema Trauma auf der einen Seite erst einmal schwer anfühlen kann.  Auf der anderen Seite ermöglicht all dieses Wissen uns, auch als Gesellschaft zu heilen. Es zeigt uns, wie weit verbreitet Traumata sind.  Wer sich mehr mit dem Nervensystem befasst, versteht plötzlich, wie dysregulierend die Welt, in der wir leben, teilweise ist.
Trauma entsteht im Nervensystem und manifestiert sich geistig, aber und vor allem körperlich. Und hier können wir wunderbar ansetzen: mit Yoga und anderen Formen der Körperarbeit. Ich spreche hier mal für Louisa und mich: Es hat so lange gedauert, bis wir uns dieses Wissen zusammengesucht haben und verstanden haben, wieso gewisse Formen der Achtsamkeit für uns vielleicht nicht funktionieren. Den Trauma-Begriff entmystifizieren, aufklären, Menschen begleiten und zeigen, dass Veränderung möglich ist, das ist uns eine Herzensangelegenheit. Eine (trauma)sensible Praxis tut uns schlussendlich allen gut. Denn sie ist fundiert und vor allem nervensystem-orientiert. Und ein Nervensystem haben wir alle!

Und wie können wir uns traumasensibles Yoga vorstellen?

Louisa: (Trauma)sensibel Yoga zu unterrichten bedeutet für mich, in erster Linie trauma-informiert zu sein und dadurch eine Haltung einzunehmen. Menschen kommen meist zum Yoga, um ihre Symptome wie z.B. innere Unruhe, Verspannungen, Gedankenkreise und schlechten Schlaf zu lindern.
Klassische Yogastunden können durch die Art und Weise des Unterrichtens, der Sprache, der Haltungen und durch das Nicht-Wissen über das Nervensystem dazu führen, dass sich diese Symptome verschlimmern. Viele Teilnehmende im Yoga Unterricht denken dann, dass sie es falsch machen oder „nicht hinbekommen”, weil sie keine Entspannung oder Verbesserung wahrnehmen können.
Menschen, die (trauma)sensibles Yoga unterrichten, wissen über das autonome Nervensystem Bescheid und verstehen, wie Trauma im Nervensystem wirkt. Mit dieser Haltung können wir Menschen gezielter und wirksamer begleiten.

In vielen Yogaausbildungen wird gar nicht, oder viel zu wenig auf diese Art der Sensibilität eingegangen. War das bei euch auch so und wie seid ihr dazu gekommen, euch tiefer mit Traumasensibilität zu beschäftigen?

Loredana: Meine eigene Ausbildung war nicht (trauma)sensibel. Und es stimmt: Ich kenne eigentlich kaum Ausbildungen, welche diesen Aspekt in den Lehrplan mit einbeziehen. Ich denke, dass sich hier noch viel ändern wird. Denn es ist ja so: Viele ÄrztInnen und TherapeutInnen empfehlen ihren PatientInnen Meditation, Yoga, ergänzendes Coaching und Co. Das bedeutet, dass besonders Menschen, die ein gewisses Leid in sich tragen, nach Entspannung und Stabilität in Yoga und Achtsamkeit suchen – was toll ist. Das ist eine große Verantwortung, die wir da haben.
Achtsamkeitsbasierte Methoden sind fast salonfähig. Auch das ist eine wunderbare Entwicklung, zu der wir als YogalehrerInnen beitragen. Die Herausforderung: Wir sind in der Regel keine TherapeutInnen, werden aber mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit mit Menschen konfrontiert, die einen Trauma-Hintergrund haben. Deswegen macht es nur Sinn, dass die Ausbildungen sich entsprechend aufstellen. Rückblickend kann ich sagen, dass ich aufgrund meiner eigenen Trauma-Geschichte tiefer in die Materie eingetaucht bin. Ich habe sehr viele verschiedene Traumata erlebt, die mich als Mensch sehr geprägt haben. (Trauma)sensibles Yoga, Achtsamkeit und Körpertherapie haben mir gezeigt, dass ich viel mehr bin als die Summe meiner prägenden Erlebnisse und dass Veränderung wirklich möglich ist. 

Louisa: Meine Ausbildungen waren ebenfalls nicht (trauma)sensibel. 2017 bin ich eine längere Zeit nach Indien gereist, um in einem traditionellen, indischen Ashram meine erste Ausbildung zu absolvieren. Diese Zeit war alles andere als (trauma)sensibel. In indischen Ashrams geht es sehr dogmatisch zu. Klare Regeln, wenig Raum für individuelles Empfinden und Herangehen an den Yogaunterricht.
Als ich dann 2017 meine ersten Yogaklassen unterrichtete und den ersten Job als Sozialarbeiterin mit geflüchteten Menschen begann, kam ich mit dem Thema Trauma in Kontakt. 
Was als zwei Parallelstraßen begann, lief 2020 als große Hauptstraße mit einer ersten Weiterbildung zum Thema (trauma)sensibles Yoga bei Eva Weinmann zusammen.

Was denkt ihr, wieso gerade jetzt Traumsensibiltät immer mehr thematisiert wird?

Louisa: Schauen wir uns an, was gerade in der Welt passiert, ist es mehr als notwendig, sich diesem Thema zu widmen. Wir leben in einer kapitalistischen Gesellschaft, die stark auf das Funktionieren ausgelegt ist. Menschen, die Traumaerfahrungen in sich tragen, denken oft, dass etwas mit ihnen falsch ist und wieso ihr Körper „nicht funktioniert” oder der Geist „nicht funktioniert”. Sie stoßen in dieser Gesellschaft oft auf Unverständnis. (Trauma)sensiblität gibt hier eine Art sanften Gegenpol, mit dem sich viele Menschen aufgehoben und verstanden fühlen. 

Loredana: Ich sehe das ähnlich wie du, Louisa. Ich nehme vor allem seit Ausbruch der Pandemie und des Ukraine-Kriegs wahr, dass die Nachfrage nach (trauma)sensiblen Angeboten steigt. Die Ereignisse unserer Zeit erzeugen auf den unterschiedlichsten Ebenen Stress. Individuell, gesellschaftlich, innerhalb der Familie, im Beruf. Permanenter Stress versetzt unser Nervensystem in den Überlebensmodus. Das führt dazu, dass nicht integriertes traumatisches Erleben an die Oberfläche kommt. Deswegen stecken besonders jetzt viele Menschen in intensiven Prozessen. Wenn wir all das mitfühlend anerkennen, steckt hier aber auch viel Wachstums-Potential. (Trauma)sensibles Yoga kann dabei eine wunderbare Stütze in herausfordernden Zeiten sein. 

Wo und wie können sich Yogalehrende am besten rund um Traumsensibiltät informieren?

Loredana: Besonders inspiriert sind wir von Verena König, Dami Charf, David Treleaven, Stephen Porges und Deb Dana. Alle diese Menschen arbeiten (trauma)sensibel und nervensystem-informiert. Ich bin außerdem sehr inspiriert vom Bodynamic System. Das ist eine Form der Körperpsychotherapie. Louisa und ich bündeln all das Wissen in unseren Angeboten. Außerdem haben wir eine Facebook Community gegründet, in der Yogalehrende, aber auch Meditationslehrende, Coaches und Co. sich zu (Trauma)sensibilität austauschen können.
In Louisas Podcast YOGA HOME findet ihr außerdem ein Interview von uns zum Thema traumasensible Achtsamkeit. Des Weiteren schreiben wir auf unseren Instagramkanälen @loredana_pina und @louisadomhan über diese Themen.

Vielen Dank für eure Zeit und das schöne Interview.


Traumasensible Achtsamkeit – die Online-Fortbildung 2023

In dieser besonderen Online-Fortbildung lernst du, wie du (trauma)sensibel und nervensystemfreundlich wirksam deine KlientInnen, SchülerInnen und anderen Menschen in deinem Umfeld begleitest. Die aus gehaltvoller Theorie und Praxis bestehende Fortbildung gibt dir hilfreiche und klare Leitlinien an die Hand, mit denen du deine wertvolle Arbeit (trauma)sensibel, achtsam und inklusiv ausrichten kannst. Die Fortbildung richtet sich an YogalehrerInnen, aber auch MeditationslehrerInnen, CoachInnen und Interessierte aus anderen Disziplinen, die sich mehr mit traumasensibler Achtsamkeit auseinandersetzen möchten.

Termine: 08. – 10. September 2023


Louisa Domhan & Loredana Di Filippo

Louisa und Loredana sind (trauma)sensible Begleiterinnen aus Leidenschaft. Sie sind davon überzeugt, dass achtsamkeitsbasierte Methoden sehr heilsam sein können – wenn (trauma)sensibel und nervensystem-freundlich angeleitet wird.  In ihren gemeinsamen Workshops und Fortbildungen vermitteln Loredana und Louisa die Grundlagen (trauma)sensibler Achtsamkeit. Sie sind Gründerinnen der „Traumasensible Achtsamkeit“-Community auf Facebook – ein Netzwerk für (trauma)sensible AchtsamkeitspraktikerInnen, Body WorkerInnen, YogalehrerInnen und CoachInnen.

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